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Typografie im Raum auf Ebene A4

Ein Klagelied über die chinesische Gesellschaft

Fragen an den Himmel
Wer ist der kleine Clown, der auf Erden herrscht?

Liao Yiwu

 

In seinem Gedicht „Fragen an den Himmel“ formuliert der chinesische Schriftsteller Liao Yiwu seine Kritik am chinesischen Staatsapparat in Form von zentralen Sinnfragen. Fast alle Absätze im Gedicht fangen mit der Bitte an „Darf ich fragen…?“ oder formulieren zumindest eine konkrete Frage wie die nach dem „kleinen Clown“. Ist da überhaupt wer? Und ist das scheinbar Lustige nicht in Wahrheit besonders schrecklich? Die Fragen bringen Klagen über die gesellschaftlichen Verhältnisse zum Ausdruck und sind zugleich bissige Anklagen. Das Klagelied, wie Yiwu das Gedicht bezeichnet, soll die politischen Missstände zusammenfassen. Das Bild des Himmels, das er hier verwendet, steht in engem Zusammenhang mit seinem Roman „Wiedergeburt der Ameisen“. Die Ameisen, die für das chinesische Volk stehen, laufen beharrlich den Berg hinauf in Richtung Himmel, ohne eigenes individuelles Ziel. Freiheit und ein selbst gestaltetes Leben suchen sie vergebens.

Liao Yiwu hört in seinen Gedichten nicht auf, Fragen zu stellen und der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten. Er ist damit zu einem wichtigen Geschichtsschreiber Chinas geworden – und seine im Wesen friedfertigen Fragen bilden einen deutlichen Kontrast zur Reaktion des totalitären Staates. Wo fängt der Staat an, wo hört er auf? Am Ende stehen die Unfreiheit und die gewaltsame Umerziehung. Dem Autor selbst, der wegen seines „Massaker“-Gedichts vom 4. Juni 1989 vier Jahre im Gefängnis verbringen und Misshandlungen erleiden musste, bleiben lediglich die Fragen, welcher Tag z.B. „der Feiertag der Häftlinge“ sei. Der Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels von 2012 kann sich nicht mehr auf eine poetische Magie einlassen. Die Verurteilung zur „Umerziehung durch Arbeit“, deren Methoden Demütigung und Folter sind, hat diese im Keim erstickt. Seine Erlebnisse haben Liao Yiwu dafür zu einem Erzähler des Volkes gemacht, zu einem Chronisten der Zeitgeschichte und der chinesischen Gesellschaft von unten, zu einem Reporter der einfachen Sprache, die ihre Wirkung aus den gestellten Sinnfragen nimmt.

Liao Yiwu wusste, wovon er schrieb. Er wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf und begann nach dem Gefängnis und seiner fortdauernden gesellschaftlichen Isolierung ein Leben als Vagabund und Boheme. Er ernährte sich vom Flötenspiel, das er in seiner Haft erlernt hatte und war immer auf der Suche nach Geschichten. Über 300 beachtenswerte literarische Reportagen sind so entstanden. Seit 2011 lebt er nach der Flucht aus China in Berlin im Exil.

 

Der Text ist Teil eines künstlerischen Projekts, welches die Württembergische Bibliotheksgesellschaft aus Anlass ihres Jubiläums in Auftrag gegeben hatte. Am 5. März 2024 wurde in der WLB die neue künstlerische Arbeit „Typografie im Raum“ als Geschenk ihres Fördervereins vorgestellt.

Die 16 typografischen Interventionen im Neubau greifen alltägliche Situationen und Grenzsituationen mit Stimmen aus der internationalen Weltliteratur auf. Ausgewählt wurden die Texte vom Philosophen Hannes Böhringer, künstlerisch umgesetzt vom Stuttgarter Büro Uebele.

Sie sind eine Fortschreibung der Arbeiten von Josua Reichert (aus dem Hauptgebäude) ins Zeitgenössische und Internationale. Im Rahmen einer Blogreihe werden diese Texte kurz vorgestellt. Als eine Kunst für Leserinnen und Leser können sie zum Nachdenken und zur weiteren Lektüre anregen.

Liao Yiwu, Die Wiedergeburt der Ameisen. Aus dem Chinesischen von Karin Betz. © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2016.

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