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Typografie im Raum auf Ebene A0

Zwischen Grenzüberschreitung und Zuhausebleiben

Wir sitzen hier herum und essen Kartoffeln,
doch Rimbaud und Verlaine sind schon in Brüssel.
Eine Menge neue Gedichte sollen sie geschrieben haben.

Kārlis Vērdiņš

 

Veröffentlichte Literatur macht uns zu Zeitgenossen der Vergangenheit. Selten lassen wir uns aber auf diese Zeitreise so sehr ein, wie der in Osteuropa bekannt gewordene lettische Autor Kārlis Vērdiņš (*1979) mit seinem Gedicht „Das Feld des Dharma“ (übersetzt von Matthias Knoll). Die Beziehung der zu ihrer Zeit avantgardistischen Dichter Arthur Rimbaud und Paul Verlaine war an sich schon unerhört, war es doch über den künstlerischen Austausch hinaus eine Liebesbeziehung, welche von einer verstörenden Reihe von Gewalttaten begleitet wurde und 1875 in Stuttgart in einer wüsten Schlägerei, der berüchtigten „Neckarschlacht“, endete.

„Wir sitzen hier herum“ beschreibt ein nur allzu bekanntes Gefühl auch bei der Arbeit in einer Bibliothek. Viele wünschen sich eine größere Wirksamkeit, sei es Aufmerksamkeit bei den Leserinnen und Lesern für das eigene Schreiben, sei es der erfolgreiche Studienabschluss oder wirtschaftliche Erfolg der eigenen Ideen oder die Akzeptanz für das Durchbrechen erstarrter gesellschaftlicher Konventionen. „Wir sitzen hier herum“ und trinken das Wasser unserer Alltäglichkeit und welken wie die alte Zwiebel in unserer Küche: Wir treiben etwas aus, verlieren aber nach wenigen Tagen die Kraft und Rimbaud und Verlaine sollen einstweilen „schon in London sein“ berichten die Geheimdienste.

Natürlich stehen „Brüssel“ und „London“ (und auch Stuttgart) aus lettischer Perspektive auch für den Westen, das zu observierende nichtsozialistische Ausland. Entsprechend berichten Spione über die Neuigkeiten von Rimbaud und Verlaine. Das Zuhause hingegen siedelt der Autor auf dem Friedhof an, wo man biertrinkend versauert. Aber in der Küche welkt nicht nur die Zwiebel, sondern wächst auch „fröhlich der Bambus im Väschen“. Bambus und Zwiebel stehen für die Ambivalenz zwischen der Grenzüberschreitung und dem stickigen Zuhausebleiben. Welche Option richtig wäre, benennt auch dieses Gedicht nicht. „Das Feld des Dharma“ (Religion, Recht und Sitte) ist weit.

 

Der Text ist Teil eines künstlerischen Projekts welches die Württembergische Bibliotheksgesellschaft aus Anlass ihres Jubiläums in Auftrag gegeben hatte. Am 5. März 2024 wurde in der WLB die neue künstlerische Arbeit „Typografie im Raum“ als Geschenk ihres Fördervereins vorgestellt.

Die 16 typografischen Interventionen im Neubau greifen alltägliche Situationen und Grenzsituationen mit Stimmen aus der internationalen Weltliteratur auf. Ausgewählt wurden die Texte vom Philosophen Hannes Böhringer, künstlerisch umgesetzt vom Stuttgarter Büro Uebele.

Sie sind eine Fortschreibung der Arbeiten von Josua Reichert (aus dem Hauptgebäude) ins Zeitgenössische und Internationale. Im Rahmen einer Blogreihe werden diese Texte kurz vorgestellt. Als eine Kunst für Leserinnen und Leser können sie zum Nachdenken und zur weiteren Lektüre anregen. Die Bibliothek hält gedruckte Wegweiser bereit.

Text aus: Grand Tour. Reisen durch die junge Lyrik Europas, hg. von Federico Italiano und Jan Wagner. – München 2019, S. 316.

 

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