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Typografie im Raum auf Ebene A2

Das erste Eis

„Verzeih Liebster, ich gehe auf die Dreißig zu
und beginne, die Gesichtscreme
Marke Aphrodite zu verwenden –“

Oh, oprosti dragi, otkucava trideseta,
i počinjem da koristim
noćnu kremu, marke Afrodita

Ana Ristović

 

Die Verse stammen aus dem Gedicht „Das erste Eis“ von der viel übersetzten serbischen Schriftstellerin Ana Ristović (*1972, hier übersetzt von Fabjan Hafner). Zwischen „noch“ und „immer noch“ in der unbestimmten Dämmerung eines Morgens oder eines Abends fällt ein Blatt, hat der erste Frost eingesetzt, das Jahr neigt sich.

Während der Geliebte leise aufbricht, stellt sich die Frau der Frage, ob ihr Altern die Beziehung gefährdet. Sie spürt den Berührungen und Zärtlichkeiten nach und bangt, dass mit ihrer verblassenden Schönheit die Intimität schwindet. Im scharfen Kontrast dazu steht das Versprechen der Werbung, welche für die Kosmetik den Namen der Göttin der Schönheit und des Begehrens verwendet.

Das Gedicht schildert die Beobachtung, dass das erste Eis den Geliebten unsicher mache, die alternden Züge des Gesichtes die zärtlichen Finger auf ihm stolpern ließen. Doch unter dem Eis lässt sich immer noch „der ein oder andere tapfere, wenn auch winzige Fisch“ ausmachen.

 

Der Text ist Teil eines künstlerischen Projekts welches die Württembergische Bibliotheksgesellschaft aus Anlass ihres Jubiläums in Auftrag gegeben hatte. Am 5. März 2024 wurde in der WLB die neue künstlerische Arbeit „Typografie im Raum“ als Geschenk ihres Fördervereins vorgestellt.

Die 16 typografischen Interventionen im Neubau greifen alltägliche Situationen und Grenzsituationen mit Stimmen aus der internationalen Weltliteratur auf. Ausgewählt wurden die Texte vom Philosophen Hannes Böhringer, künstlerisch umgesetzt vom Stuttgarter Büro Uebele.

Sie sind eine Fortschreibung der Arbeiten von Josua Reichert (aus dem Hauptgebäude) ins Zeitgenössische und Internationale. Im Rahmen einer Blogreihe werden diese Texte kurz vorgestellt. Als eine Kunst für Leserinnen und Leser können sie zum Nachdenken und zur weiteren Lektüre anregen.

Text aus: Grand Tour. Reisen durch die junge Lyrik Europas, hg. von Federico Italiano und Jan Wagner. – München 2019, S. 383.

 

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