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Typografie im Raum auf Ebene A2

Intensität der Liebe

Das ist unglaublich, was ein geplatztes Rohr anrichten kann.
Das ist unglaublich, was ein Mann und eine Frau anrichten können.

Justyna Bargielska

 

Mit diesen ersten Worten setzt Justyna Bargielska (*Warschau 1977, Übers.: Esther Kinsky) den Rahmen für ihr Gedicht „Die Frau sagt den Bienen den Tod des Hausherrn voraus und legt ein schwarzes Band um den Bienenstock“. Es geht um das Absterben des Dialogs, um das Festhalten an der Gemeinsamkeit, obwohl die Frau weiß, dass die Trennung bevorsteht. Es geht um die Schlange, welche dennoch „in den Himmel geholt wird.“

Das Gewaltpotential, welches in Partnerschaften entstehen kann, ist „unglaublich“. Strafrechtlich versucht man das in Deutschland in den Griff zu bekommen, doch wäre gerade in der Gefahrenabwehr noch viel zu tun, wie die erschreckende Zahl der hiesigen Femizide im europäischen Vergleich zeigt. Noch unerhörter erscheint aufgrund von tradiertem Rollenverständnis vielen, dass eine Frau gewalttätig wird, weil sie zur Überzeugung gelangte, ihre Integrität nicht anders wahren zu können. Das „zur Schlange werden“ erscheint als letzte Möglichkeit zum Schutz der eigenen Identität.

„Welch unpoetischer Gegenstand für ein Gedicht“, möchte man einwenden. Doch werden wir das in vielen Partnerschaften entstehende Gewaltpotential mit staatlichen Maßnahmen alleine nicht in den Griff bekommen. Ein Erstes ist, dieses zur Sprache zu bringen: Worüber nicht gesprochen werden kann, damit lässt man die Menschen hilflos alleine. Es in der intimen Form des Gedichtes zur Sprache zu bringen, sagt hingegen wenigstens: „Du bist nicht alleine“, mag auch anderen die Augen öffnen. Kunst hat eine wichtige Rolle darin, zur Sprache zu bringen, was sonst beschwiegen oder übersehen wird. Ein Zitat aus einem Gedicht wird vielleicht so zum Anker in unserer Wahrnehmung.

 

Der Text ist Teil eines künstlerischen Projekts welches die Württembergische Bibliotheksgesellschaft aus Anlass ihres Jubiläums in Auftrag gegeben hatte. Am 5. März 2024 wurde in der WLB die neue künstlerische Arbeit „Typografie im Raum“ als Geschenk ihres Fördervereins vorgestellt.

Die 16 typografischen Interventionen im Neubau greifen alltägliche Situationen und Grenzsituationen mit Stimmen aus der internationalen Weltliteratur auf. Ausgewählt wurden die Texte vom Philosophen Hannes Böhringer, künstlerisch umgesetzt vom Stuttgarter Büro Uebele.

Sie sind eine Fortschreibung der Arbeiten von Josua Reichert (aus dem Hauptgebäude) ins Zeitgenössische und Internationale. Im Rahmen einer Blogreihe werden diese Texte kurz vorgestellt. Als eine Kunst für Leserinnen und Leser können sie zum Nachdenken und zur weiteren Lektüre anregen.

Text aus: Grand Tour. Reisen durch die junge Lyrik Europas, hg. von Federico Italiano und Jan Wagner. – München 2019, S. 24.

 

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