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Typografie im Raum auf Ebene A3

Messer

Weinen wir an einem Grab
In dem noch
Kein Toter liegt
Schärfere Messer
Sind schon unterwegs.

Šahin Manṣouri Ārāni

 

In ihrem Gedicht „Messer“ thematisiert die persische Dichterin Šahin Manṣouri Ārāni (*1960) die Gewalt, welche das Leben im Iran seit dem Scheitern der Verfassungsbewegung vor hundert Jahren prägt. „Gewalt gebiert Gewalt“ heißt es im Deutschen und meint in der Regel die Gegengewalt. Die iranische Erfahrung geht darüber hinaus. Seit der Islamischen Revolution 1979 durchdringt unter dem Mantel der Religion die Gewalt auch die privaten Bereiche des Lebens. Die Machthaber „suchen nach Hälsen für ihre Galgen“ (Navid Afkari, hingerichtet 2020).

Die persische Literatur ist überaus reich an Gedichten. Darunter gibt es schon seit Jahrhunderten ausgesprochen politische Gedichte. Im vorliegenden geht es zunächst um das Benennen der Gewalt. Es ist der Versuch, die Gewalt nicht zur beschwiegenen Selbstverständlichkeit werden zu lassen. Dieser elementare Widerstand durch Benennen kommt hier ohne eine Bewertung aus. Dass es jeden treffen kann, lässt bereits am leeren Grab weinen. Ob die Gewalt gerechtfertigt wäre oder nicht, wird nicht thematisiert. Der Komparativ in „schärfere Messer sind schon unterwegs“ zeigt die Unerbittlichkeit der Situation, stellt aber auch infrage, dass es ewig so weitergehen wird.

 

Der Text ist Teil eines künstlerischen Projekts, welches die Württembergische Bibliotheksgesellschaft aus Anlass ihres Jubiläums in Auftrag gegeben hatte. Am 5. März 2024 wurde in der WLB die neue künstlerische Arbeit „Typografie im Raum“ als Geschenk ihres Fördervereins vorgestellt.

Die 16 typografischen Interventionen im Neubau greifen alltägliche Situationen und Grenzsituationen mit Stimmen aus der internationalen Weltliteratur auf. Ausgewählt wurden die Texte vom Philosophen Hannes Böhringer, künstlerisch umgesetzt vom Stuttgarter Büro Uebele.

Sie sind eine Fortschreibung der Arbeiten von Josua Reichert (aus dem Hauptgebäude) ins Zeitgenössische und Internationale. Im Rahmen einer Blogreihe werden diese Texte kurz vorgestellt. Als eine Kunst für Leserinnen und Leser können sie zum Nachdenken und zur weiteren Lektüre anregen.

Text aus: Ein Dieb im Dunkeln starrt auf ein Gemälde. Persischsprachige Lyrik des 21. Jahrhunderts übersetzt und hg. von Ἁli Ἁbdollahi und Kurt Scharf. – Bremen, Sujet Verlag 2021, S. 121.

 

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