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Clytus Gottwald (1925–2023)

Am 18. Januar ist unser langjähriger Kollege Clytus Gottwald im Alter von 97 Jahren verstorben. Ein außerordentliches Leben, welches auch für vier Personen viel gewesen wäre. Clytus Gottwald hatte in Tübingen und Frankfurt Musikwissenschaften, Soziologie und evangelische Theologie studiert und im Bereich alter Musik über Johannes Ghiselin – einen international wirksamen Komponisten des 15. Jahrhunderts – promoviert, dessen Werke er später herausgab. Vier Jahrzehnte katalogisierte er, gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, an der Landesbibliothek mittelalterliche und frühneuzeitliche Musikhandschriften aus Freiburg, Ulm, Augsburg, München, Nürnberg und Kassel. Dabei gelang es ihm, die vielfach anonymen Werke in ihre Entstehungs- und Wirkungsgeschichte einzuordnen, indem er die Merkmale der Handschriften bis hin zu ihren Wasserzeichen untersuchte, was damals noch ungewöhnlich war. Damit machte er der Wissenschaft wie der Praxis eine Vielfalt an Quellen erstmals zugänglich.

Die Realisierung von Musik lag ihm außerordentlich am Herzen. Als Chorleiter an der Stuttgarter Pauluskirche erweiterte er das Repertoire, nachdem er über Olivier Messiaen auf die Musik der Avantgarde gestoßen war, welche in der deutschen Chorpraxis durch die Konzentration auf Musik des Barock und der Klassik sowie die volkstümlichen Werke in der Tradition Friedrich Silchers keinen Platz hatte. Weltkriege und Nationalsozialismus hatten wichtige Verbindungen zur Modernen gekappt. Über zwanzig Jahre arbeitete er als Redakteur für Neue Musik beim Süddeutschen Rundfunk und machte weite Kreise mit der Musik seit Schönberg vertraut.

Aus Mitgliedern des Südfunkchors bildete er die Schola Cantorum an der Pauluskirche, welche die klanglichen Möglichkeiten ins Symphonische erweiterte. Rund achtzig Werke moderner Komponisten, darunter Pierre Boulez, Mauricio Kagel, György Ligeti, Luigi Nono, Karlheinz Stockhausen, Dieter Schnebel und Helmut Lachenmann, brachte er mit diesem Ensemble während drei Jahrzehnten zur Uraufführung und war mit ihm auf allen einschlägigen Festivals präsent. Dass so viele „für ihn“ komponierten, lag neben seiner Musikalität und Aufgeschlossenheit an seiner gewinnenden Art. Er wurde international zu einer zentralen Figur der Neuen Musik. In der Paulusgemeinde stießen seine Vorstellungen jedoch auf Widerstand, weil die Neue Musik nicht zur Liturgie passte und vielfach bekenntnisfrei erscheint. So kam es 1970 zur Trennung. In seinem lesenswerten Buch Neue Musik als spekulative Theologie – Religion und Avantgarde im 20. Jahrhundert (2003) hat er die Problematik anhand der großen Beispiele von Strawinsky bis Stockhausen untersucht und die Linien der Auseinandersetzung in musiktheoretischer, philosophischer und theologischer Perspektive herausgearbeitet.

Nicht zuletzt ist er als Komponist hervorgetreten, aber ein besonders reiches Echo haben weltweit seine mehr als hundert Transkriptionen spätromantischer und impressionistischer Werke für Konzertchöre a capella gefunden. Bis ins hohe Alter publizierte er immer wieder weitere Bearbeitungen. Zwischen dem Katalogisieren von Musikhandschriften, der Aufführung neuer Werke der Musik, der Musikvermittlung und dem Komponieren hat sich Gottwald immer wieder Zeit für seine Kollegen und Kolleginnen der Landesbibliothek genommen. Mit seinem weiten Horizont und vielfältigen Interessen, Anregungen und Kontakten hat er die Bibliothek enorm bereichert.

 

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