Kopf ab, Kant!? Stürmische Zeiten für Bilder
Die europäische Kulturgeschichte ist von Bilderstürmen begleitet. Angefangen mit Vandalenakten an „heidnischen“ Tempeln und „Götzenbildern“, begangen von christlichen Fanatikern in spätrömischer Zeit, brachte der Ikonoklasmus in Byzanz im 9. Jahrhundert eine Grenzabsprache in der Bildverehrung zwischen der lateinischen Christenheit und der orthodoxen Kirche im Osten. Mit der Reformation im Westen rollte im 16. Jahrhundert eine neue Welle des Bildersturms durch die Gotteshäuser Mittel- und Westeuropas. Eine politische Dimension hatten die Entweihung der Königsgräber von Saint-Denis und die Enthauptung mittelalterlicher Statuen mit gekröntem Haupt, an denen die Sansculottes während der Französischen Revolution ihren Hass auf die Monarchie ausdrückten.
Im zwanzigsten Jahrhundert kam eine fünfte Welle mit den Feldzügen der Nazis gegen Entartete Kunst, welche die Kunstlandschaft so nachhaltig umgepflügt hat, dass deren Folgen noch nach einem Menschenalter den Kunstmarkt, die Sammlungspolitik und die Gerichte beschäftigen. Einen regionalen Bildersturm zur Jahrhundertwende bescherte die Wiedervereinigung Deutschlands mit der Lichtung des Statuenwalds, den Standbildern von Marx, Engels, Lenin, Thälmann und Genossen.
Europa hat eine traditionskritische Geschichte mit einem Hang zu epochalen Häutungen. Wie in keiner anderen Hochkultur dieser Welt, gehört der Bildersturm zur DNA des Abendlands mit einer ebenso zerstörerischen wie schöpferischen Eigenschaft. Ohne ihre Bilderstürme stünde Europa nicht da, wo es jetzt steht: als Verband von Staaten mit demokratischen Verfassungen auf der Grundlage der Erklärung der Menschenrechte. Vor diesem Hintergrund gilt es, die aktuellen Denkmalstürze, begangen an historischen Exponenten des Kolonialismus, zu diskutieren.
Beat Wyss, geboren in Basel, ist emeritierter Professor für Kunst- und Ideengeschichte. Er hatte einen Lehrstuhl an der Ruhr-Universität Bochum inne, war Direktor des kunsthistorischen Instituts an der Universität Stuttgart und Fachgruppenleiter für Kunstwissenschaft und Medienphilosophie an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Gastprofessuren und Fellowships führten ihn nach Los Angeles, Williamstown und New York, nach Aarhus, Tallinn, Wien und Zürich. Wyss ist Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.
Dienstag, 01.06.2021, 19 Uhr
Die Veranstaltung findet als Online-Veranstaltung statt. Eine Anmeldung ist erforderlich.
Die Veranstaltung ist Teil der gemeinsamen Vortragsreihe der Württembergischen Landesbibliothek und der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.
Weitere Informationen und Anmeldung
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