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Portrait: Josua Reichert (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Josua_Reichert,_Porträt.jpg), „Josua Reichert, Porträt“, zugeschnitten von WLB Stuttgart, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/legalcode / Foto: Rafael Glatzel, WLB Stuttgart

Eine Welt aus Buchstaben – Gedenken an Josua Reichert

„Zweitausend Jahre lang , bevor er die Welt schuf, betrachtete der Heilige, er sei gesegnet, die Buchstaben und spielte mit ihnen“.

In dieser poetischen Vision im kabbalistischen Buch „Schöpfungsalphabet aus dem Buch Sohar“, das Josua Reichert 1998 veröffentlichte, kann man auch das ganz den Buchstaben und Wörtern gewidmete Werk dieses Künstlers beschrieben sehen. Wie bei keinem anderen Künstler vor und nach ihm verschränken sich in Josua Reicherts Drucken Buchstaben als Bildelemente, als Blätter zum Anschauen, mit Drucken, die vorwiegend textbezogen, also zum Lesen sind: Schauen und Lesen machen das Proprium von Reicherts Werk aus.

Jeder Besucher der Württembergischen Landesbibliothek ist überall im Gebäude mit einem seiner wegweisenden Hauptwerke konfrontiert – den 36 großformatigen Blättern der sogenannten Stuttgarter Drucke. In ihnen ist alles vorhanden, was Reicherts Werk ausmacht: ein Umfassen aller Kulturen und Epochen von der Antike bis zum 20.Jhdt., von Textfragmenten altgriechischer Dichtung über Bibeltexte, orientalische Dichtung bis hin zu Goethe, Trakl und Kafka. Der Künstler war leidenschaftlicher Leser, ein pictor doctus, der die Dichtung fremder Kulturen auch in deren Lettern druckte, hebräisch, griechisch, arabisch, kyrillisch. Teilweise zeichnete und schnitt er diese – besonders die großen Typen – mit eigener Hand. Kein Wunder, dass seine wortbezogenen Werke vielfach in Bibliotheken, Universitäten, Gerichten bis hin zur Schlosskapelle Mochental präsent sind.
Diese Offenheit gegenüber so unterschiedlichen Einflüssen spiegelt sich auch in seiner künstlerischen Grundkonzeption, in der Elemente seines Lehrers HAP Grieshaber und des von diesem verehrten Hendrik Werkman sich überlagern mit Tendenzen von Konstruktivismus und Abstraktion.

In der sein Werk sehr bestimmenden Farbigkeit gibt es die strengen, klassischen Druckfarben aber im Zeitverlauf fortschreitend – eine subtile Auffächerung mit selbst angemischten helleren Farben, in denen sowohl Einflüsse des Orients wie des von ihm so geliebten Italien und besonders der Florentiner Manieristen spürbar werden. Aber diese vielfältigen, durchaus nicht untereinander kongruenten Einflüsse bedeuten keine Unentschiedenheit oder Ambivalenz. Ganz im Gegenteil besteht die Singularität seiner Drucke gerade darin, dass er aus all dem einen unverwechselbaren eigenen Stil schuf, ein dichtes, idiosynkratisches Gewebe aus Anregungen und Selbsterdachtem. Anpassung wäre das letzte was man bei diesem „weißbärtigen Widerborst“ erwarten durfte.

Das ganze Werk Reicherts besteht aus Hochdruck, steht also in der Gutenbergtradition. Sein Wahlspruch war „printing is a way of life“. Gelegentlicher ergänzender Einsatz von Offset und Siebdruck wurde von befreundeten Kollegen gemacht. Die Typen erwarb er soweit möglich, ansonsten entwarf und schnitt er sie selbst, wie etwa die Ginkgo Blätter zu den Drucken mit Goethes Suleika Gedichten. Dass diese ihm besonders am Herzen lagen, verwundert nicht, ist doch der West-Östliche Diwan das bedeutendste Werk in dem sich Orient und Okzident nicht nur begegnen, sondern amalgamieren. Ein solcher Magier kultureller Verschmelzung war Reichert mit vielen Werken, so den Blättern des Zyklus „Schriftfest in Sofia“, denen zu orientalischer Dichtung sowie seinem opus magnum, dem „Haidholzer Psalter“.

In der Sprache der Drucker des 15. Jhdts war Reichert ein „Schweizerdegen“, d.h. jemand der alles selbst machte in seiner Werkstatt. Wer mit dem Drucken wie ich als Verleger lebenslang zu tun hatte, vergisst nie den charakteristischen Geruch einer Druckerwerkstatt. Das war auch bei Reichert so. Die Werkstatt war kein Genieschuppen, sondern ein sorgfältig geordneter Raum, so wohlgeordnet wie seine Kunst. Zugleich war sie ein Archiv, in dem er praktisch sein gesamtes Werk in Belegstücken versammelt hatte. Es wäre zu wünschen, dass dieses Ensemble erhalten bleibt, sei es am Ort oder anderswo in einem musealen Zusammenhang als Erinnerung an den Meisterdrucker.

Am 31. Oktober ist Josua Reichert im Alter von 83 Jahren verstorben. Neben der Bewunderung seiner Kunst bewahren seine Freunde die Erinnerung an einen eindrucksvollen Mann: großgewachsen, kraftvoll, kommunikativ und zugleich einzelgängerisch, nicht einfach im Umgang aber zugleich von feiner Empfindsamkeit und Zurückhaltung. Viele werden gute Erinnerungen an Werkstattbesuche, Ausstellungseröffnungen und fröhliche Stunden mit dem Andenken an Josua Reichert verbinden, der von sich einmal sagte: “Mein Leben ist ein Kontinuum“.

Könnte man etwas Schöneres über Leben und Gelingen und das von ihm hinterlassene Werk sagen? Poesia typographica, wie er eine Werkgruppe nannte, ist sein Vermächtnis.

 

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Fotos: Rafael Glatzel, WLB Stuttgart