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Typografie im Raum auf Ebene A4

Ein neuer Stern am Himmel – die Liebe

Er ist ein Fußballspieler
Kickt den Ball
kickt jeden Tag
den Ball
Eines Tages
Kickt er die Liebe
hoch in die Luft
Da bleibt sie
oben am Himmel
Kommt nicht zurück

Kazuko Shiraishi

 

Dieses Gedicht der japanischen Dichterin Kazuko Shiraishi (1931-) nimmt ebenso wie Liao Yiwu die metaphorische Ebene des Himmels auf. Ausgangspunkt sind bei ihr aber nicht Sinnfragen an die Gesellschaft, sondern der Mensch mit seinen Gefühlen. Im Blickpunkt stehen für sie Liebesleid, Unglück und Einsamkeit, mit einer Reminiszenz an die antike Dichterin Sappho, welche die Liebe als eine Himmelsmacht mit ihren seelischen und körperlichen Auswirkungen eindrücklich beschrieben hat. Die Erkenntnisse, die dahinter stehen, lauten: Die Liebe ist frei und ungebunden. Die Schwere des Daseins muss daher leicht werden. Shiraishi beschreibt dies als einen Ball in „ihrem Inneren“, der sich, wie sie im weiteren Verlauf des Gedichtes ausführt, zunächst „zur Flamme“, dann „zur Liebe“ verwandelt, bis diese schließlich zu einem „neuen Stern“ am Himmel wird. Während alltägliche Dinge wie Bälle immer zur Erde zurückkommen und festgehalten werden können, wird die freie, schwerelose Liebe zu einem Fixpunkt am Himmel, der dort verbleibt und für den einzelnen Menschen, der dafür offen ist, sichtbar bleibt. Der Himmel steht hier im Kontext poetischer Magie und damit in deutlichem Kontrast zum realen, zeitgeschichtlichen Ton des Klagegedichts von Yiwu.

Kazuko Shiraishi, die in ihren Gedichten eine große Bandbreite an Themen wie Leben und Tod, Liebe, Geist und Körper, Mysterium und Chaos zum Ausdruck bringt, wurde 1998 unter anderem mit dem renommierten japanischen „Yomiuri Literary Prize“ bedacht und erhielt im gleichen Jahr eine Auszeichnung durch den japanischen Kaiser.

 

Der Text ist Teil eines künstlerischen Projekts, welches die Württembergische Bibliotheksgesellschaft aus Anlass ihres Jubiläums in Auftrag gegeben hatte. Am 5. März 2024 wurde in der WLB die neue künstlerische Arbeit „Typografie im Raum“ als Geschenk ihres Fördervereins vorgestellt.

Die 16 typografischen Interventionen im Neubau greifen alltägliche Situationen und Grenzsituationen mit Stimmen aus der internationalen Weltliteratur auf. Ausgewählt wurden die Texte vom Philosophen Hannes Böhringer, künstlerisch umgesetzt vom Stuttgarter Büro Uebele.

Sie sind eine Fortschreibung der Arbeiten von Josua Reichert (aus dem Hauptgebäude) ins Zeitgenössische und Internationale. Im Rahmen einer Blogreihe werden diese Texte kurz vorgestellt. Als eine Kunst für Leserinnen und Leser können sie zum Nachdenken und zur weiteren Lektüre anregen.

aus: Odysseus heute. Ausgewählte Gedichte. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Michael Fisch. edition KAPPA 2001
Aus dem Japanischen von Annelotte Piper

 

Link zur Literatur von Kazuko Shiraishi im Bestand der WLB

Link zur Homepage der WLB Stuttgart

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