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Foto: Verena Müller

Natur! Unsterblichkeit eines modernen Gefühls

Die Geschichte der Naturverehrung erfährt in der Neuzeit eine bemerkenswerte Zäsur: Der vorherrschende Blick auf Landschaften, Pflanzen und Tiere als zu nutzende Ressourcen des Menschen ändert sich grundlegend mit der Aufklärung und der Entdeckung der Nachhaltigkeit in der Forstwirtschaft – eine Reaktion auf den immensen Holzbedarf im Berg- und Städtebau.

Erstmals wird der Gedanke greifbar, dass der Mensch sein Handeln in der Natur reflektieren und nicht mehr automatisch durch Gott entschuldet werden könne, sondern sich selbst verantworten müsse. Dies ist auch die Geburtsstunde der Auffassung, dass der Mensch der Schöpfung Schaden zufügt, dazu überhaupt im Stande ist. Die Naturbeschreibung wird wissenschaftlich, die Systematisierung der Arten durch Linné im 18. Jahrhundert in die „Naturreiche“ Tiere, Pflanzen und Mineralien sowie die fünf aufeinander aufbauenden Rangstufen Klasse, Ordnung, Gattung, Art und Varietät schafft einen objektivierenden Blick – und offenbart damit die moderne Sonderstellung des Menschen, der sich allen romantischen Bemühungen zum Trotz neben der Natur befindet.

Der gegenwärtige Naturdiskurs ist demgegenüber stark vom Verdikt einer bedrohten Natur geprägt. Breite gesellschaftliche Debatten um Klima, Rohstoffe, Landnutzung oder Biodiversität charakterisieren unser Zeitalter als „Ära der Ökologie“ (Joachim Radkau) und „Anthropozän“ (Paul Crutzen). Trotz der anthropologischen Sorgenfalten ist die Sehnsucht nach einer kontemplativen Einkehr in die Natur aber keineswegs verflogen – im Gegenteil: An diesem Wunsch hat das moderne Leben mit seinen virtuellen Optionen der Naturerfahrung und Naturoptimierung etwa in der Biomedizin nichts verändert. Vielleicht haben ihn Digitalisierung und Homeoffice-Normalität sogar noch verstärkt, wie man am Zuspruch für das Tauchen, Angeln, die Jagd, das Klettern und viele andere Outdoor-Aktivitäten ablesen kann.

Hinzu kommt eine große Bewegung des ökologischen Konsums, der Gärtnerns oder des saisonalen und regionalen Kochens seit der Jahrtausendwende. Es sind Kulturpraktiken aus Freude am Konkreten ebenso wie aus Überdruss an der Allverfügbarkeit des Notwendigen. Sie spiegeln die Sehnsucht nach Rückbindung an etwas wider, was wir als elementar empfinden und zunehmend verloren glauben. Dazu gehören auch jahreszeitliche Bezüge, die wir angesichts der ganzjährigen Verfügbarkeit von Lebensmitteln im Kühlregal nicht mehr zu beachten bräuchten – und gerade deshalb wieder schätzen.

Doch wie gut kennen wir „die Natur“, von der pausenlos in jeder Werbung und politischen Standortbestimmung die Rede ist, eigentlich noch angesichts eines zunehmend medialisierten Naturzugangs? Fällt uns das Erkennen heimischer Greifvögel oder der Hauptgetreidearten ebenso leicht wie das Verständnis statistischer Zusammenhänge der Erderwärmung oder der Ausbreitung einer Pandemie? Inwieweit liegt in der gegenwärtigen Zuspitzung des Naturbegriffs auf die Klimaerwärmung vielleicht auch eine Verengung, verglichen etwa mit den stark von regionalen Umweltschutzthemen geprägten 1970er und 1980er Jahren? Ist der Mensch, wie der Frankfurter Philosoph Martin Seel zuspitzt, also wirklich zum Garanten der Natur geworden, oder überhöht er sich mit solchen Wertungen selbst, wie er es seit der Neuzeit tut?

Dr. Andreas Möller, geboren 1974 in Rostock, befasst sich seit seiner Doktorarbeit zur Naturliebe und Technikkritik in der Weimarer Republik (Humboldt-Universität 2005) mit dem Verhältnis von Gesellschaft und Natur. Er war Journalist beim Deutschlandfunk Kultur, leitete die Politikberatung der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften und ist heute Kommunikationschef des Maschinenbauers TRUMPF. Nach „Traumfang“ (2009), „Das grüne Gewissen. Wenn die Natur zur Ersatzreligion wird“ (2013) und „Zwischen Bullerbü und Tierfabrik. Warum wir einen anderen Blick auf die Landwirtschaft brauchen“ (2018), das 2019 mit dem Preis der deutschen Agrarpresse ausgezeichnet wurde, erscheint im März 2022 sein neues Buch: „Hechte. Ein Portrait“ in der „Naturkunden“-Reihe von Judith Schalansky.

Dienstag, 8. März 2022, 18 Uhr, Online-Veranstaltung
Die Veranstaltung findet als Online-Veranstaltung via WebEx statt. Eine Anmeldung ist nicht erforderlich. Über den Zugangslink gelangen Sie direkt in den WebEx-Raum, der ab 17:45 Uhr freigeschaltet ist. Mit der Teilnahme akzeptieren Sie die Datenschutzrichtlinien von WebEx.

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