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Buchcover: Wallstein Verlag

Entnazifizierungsgeschichten

Über die Entnazifizierung scheint das Urteil längst gesprochen: In Öffentlichkeit und Forschung gilt sie als missglückter Versuch einer frühen Vergangenheitsbewältigung, der vor allem an Täuschung und Vertuschung durch die betroffenen Deutschen scheiterte. Hanne Leßau zeigt in ihrem Buch „Entnazifizierungsgeschichten. Die Auseinandersetzung mit der eigenen NS-Vergangenheit in der frühen Nachkriegszeit“, warum diese Einschätzung zu kurz greift.

Die Bibliothek für Zeitgeschichte präsentiert in Zusammenarbeit mit dem Hospitalhof Stuttgart die Historikerin und Ausstellungsmacherin in einem Video-Vortrag auf dem Wissenschaftsportal L.I.S.A. Leßau gibt Einblicke in ihre Forschungsergebnisse und stellt sich anschließend den Fragen von Dr. Christian Westerhoff.

Während sich der Aufbau des Buchs am Ablauf der Entnazifizierungsverfahren in der britischen Besatzungszone orientiert, stehen im Vortrag ihre drei zentralen Thesen im Vordergrund. Es handelt sich hierbei um verbreitete Annahmen zur Entnazifizierung, die sie gestützt auf Tagebücher, Notizzettel, Briefe, Zeitungsartikel sowie die Verfahrensakten widerlegt. So galt bisher erstens als ausgemacht, dass die Entnazifizierungsverfahren den zu Prüfenden keine tiefergehende Auseinandersetzung mit ihrer NS-Vergangenheit abverlangt hätten. Besonders viele Mythen ranken sich um die sogenannten „Persilscheine“, die angeblich leicht zu bekommen waren. Tatsächlich ging es den Alliierten nicht darum, dass die Deutschen beim Ausfüllen des Fragebogens über ihr Verhältnis zum Nationalsozialismus nachdachten, sondern um eine sicherheitspolitisch motivierte Identifizierung und Aussonderung von Funktionsträgern des Dritten Reichs. Doch die Deutschen zeigten selbst ein erstaunliches Interesse daran, ihre Version der Geschichte darzustellen.

So kann auch die zweite verbreitete Annahme nicht bestehen, die besagt, dass sich die Deutschen um eine Auseinandersetzung mit ihrer NS-Vergangenheit gedrückt hätten. Sicherlich gab es keine kritische Hinterfragung, die heutigen Maßstäben gerecht werden würde. Doch das „breite Sprechen“ über die Jahre der Diktatur bildete eine wichtige Brücke für das Ankommen in der Demokratie. Die meisten zu Prüfenden füllten die Fragebogen schließlich nicht wissentlich falsch aus, wie oft behauptet wird. Nicht das Verschweigen stand im Vordergrund, sondern das Erklären der kritischen Punkte im Lebenslauf. So kommt Hanne Leßau zu dem Schluss, dass die Entnazifizierung nicht einfach gescheitert sei, vielmehr kam ihr eine wichtige Funktion im komplexen Übergang von der Diktatur zur Demokratie zu.

Im Gespräch macht sie deutlich, dass die Entnazifizierung bisher zu sehr vom Ende her gedacht wurde. Überhaupt sei das Thema keinenswegs ausgeforscht, wie vielfach angenommen. Zahlreiche Fragen seien noch immer nicht wirklich beantwortet. So bleibt es eine Aufgabe zukünftiger Forschung, die Prüfer im Entnazifizierungsverfahren genauer in den Blick zu nehmen. Wer waren sie, welche Einstellung hatten sie zum Verfahren? Hanne Leßaus Forschungsprojekt, bei dem manche zunächst Zweifel hatten, ob es überhaupt substantiell Neues zutage fördern könne, lässt die Entnazifizierung nicht nur in neuem Licht erscheinen, sondern es wirft auch zahlreiche neue Fragen auf, derer sich die Forschung annehmen sollte.

Die Veranstaltung ist online auf L.I.S.A. abrufbar.

 

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